VIRTUARCH: Talk Deutsche Schule, Shanghai

 

Der Raum als Dritter Pädagoge

Wie Architektur moderne Bildungsmethoden unterstützt.

Mit dem Neubau der Deutschen Schule in Yangpu hatte Sven Heineken als Schulleiter die einmalige Chance, ein Schulgebäude nach den Vorstellungen moderner Lehrmethoden zu konzipieren. VIRTUARCH hatte ihn dabei in der Entwicklungs- und Umsetzungsphase unterstützt. Seit einem Jahr ist die neue Schule geöffnet. Daniel Heusser, Leiter des Schweizer Architekturbüros VIRTUARCH, hat sich mit Sven Heineken vor Ort getroffen, um über erste Erfahrungen, Erfolge und Rückschlüsse zu sprechen.

Daniel

Wir hatten in der Projektvorbereitung für die neue Schule in Yangpu viel über Raumprogramme und Nutzeranforderungen gesprochen und diese in unzähligen Workshops zusammen mit Deinen Kolleginnen und Kollegen von der Deutschen und der Französischen Schule entwickelt. Wie erlebst Du Eure zentralen Themen Vernetzung, Cluster und Farbkonzepte nun in der Realisation, also im Alltag der Schüler und Lehrer?

 

Sven

Da ich kein Architekt bin, war für mich die Frage, wie die einzelnen Abteilungen der Schule miteinander vernetzt sind und in welcher Beziehung  sie zueinander stehen besonders spannend. Wir haben uns viele Gedanken zu diesem Thema gemacht und uns für das Clusterprinzipkonzept entschieden. Dieses wurde konsequent vom Kindergarten über die Grundstufen bis in die Sekundarstufen umgesetzt. Die einzelnen Bereiche sind autonom. Wir wollten viele kleine autarke Schulen in der großen Schule, mit Wohlfühlatmosphäre und privater Lernumgebung. Jedes Cluster hat einen eigenen Lehrerzimmerzugang, Differenzierungsräume, Klassenräume, eine Toilette und einen kleinen Marktplatz. Dieses Grundprinzip sieht natürlich in jedem Cluster anders aus, aber die Funktionalität ist dieselbe.

 

Daniel

Es war unser Ziel, diese autonomen Cluster zu einer Einheit zu formen, sie aber dann  farblich und von den Formen her zu differenzieren.

 

Sven

Ja genau. Im Kindergarten ist viel in Orange und Grün gehalten. Lebendige Farben, runde Formen, Transparenz; alles hier ist spielerisch gestaltet. In der Grundschule fällt die Farbe Orange dann weg und  Grün ist die vorherrschende Farbe. Die Ecken sind abgerundet, so dass alles immer noch sehr kindgerecht ist. In der Sekundarstufe ist die Veränderung schon wesentlich deutlicher: Grün setzt nur noch Farbakzente, Grau dominiert. In der Oberstufe wollen wir sogar die Wände auflösen und viel mit Glas arbeiten. Die Farb- und Formgebung der Cluster soll also auch die Bedürfnisse der Kinder widerspiegeln. Sie soll visualisieren, in welcher Entwicklungsphase die Schüler gerade sind.

Daniel

Wir hatten diese Idee eines stringenten Farbkonzepts und der mit zunehmendem Alter kantiger werdenden Forman ursprünglich in der alten Schule in Pudong entwickelt. Was habt Ihr übernommen, was ist neu?

 

Sven

 

 

„Wir geben den Kindern den Freiraum, die Welt für sich zu entdecken“

 

Daniel

An der Deutschen Schule habt Ihr ja das Motto „Die Welt entdecken“. Wie spiegelt sich das in der Konzeption der Architektur wider?

 

Sven

Der Gedanke zieht sich architektonisch durch das gesamte Gebäude. Das beginnt im Eingangsbereich, den ich gerne mit einem Flughafen vergleiche, nur intimer gestaltet. Der Eingangsbereich, unsere Piazza, ist der öffentliche Bereich: Eltern bringen ihre Kinder und können noch etwas einkaufen, sich Bücher ansehen. Nach dem „Einchecken“ gehen die Kinder ohne ihre Eltern zum Boarding, um im Bild des Flughafens zu bleiben, also in ihre Lernbereiche. Das haben wir ganz bewusst so gestaltet. Sie sollen in der Schule ihre Privatsphäre haben, einen sicheren Ort vorfinden. Es gibt also eine klare Trennung zwischen öffentlichem und pädagogischem Bereich; im pädagogischen Raum  arbeiten wir mit den Kindern. Hier entdecken sie die Welt unabhängig von den Eltern.

 

„Wir haben mithilfe der Architektur eine neue familiäre Atmosphäre geschaffen“

 

Daniel

Die Ausgestaltung der einzelnen Bereiche war ja eine der großen Fragen in beiden Schulprojekten. Die Schule in Pudong, die sehr kleinteilig war, haben wir konsequent auf eine familiäre, kleinteilige Atmosphäre ausgerichtet. Hier in Yangpu ist der Campus viel größer. Trotzdem wollten wir die Qualität der Pudonger Schule erhalten, sozusagen die ‚Pudonger DNA‘ weiterentwickeln. Wie hat sich das  bewährt?

 

Sven

Wir hatten vier Themen, die wir aus der alten Schule übernommen haben: Das Haus des Lernens, das Clusterprinzip, die familiäre Atmosphäre und das individualisierte Lernen. Die familiäre Atmosphäre als Beispiel war genau der Punkt, wo Du in Pudong aus der Not eine Tugend gemacht hast. Wir hatten dort viele Nischen, schmale Gänge und einige Bereiche waren zwangsläufig in dem ehemaligen Industriegebäude separiert. Diese familiäre Atmosphäre wollten wir auch in Yangpu wieder haben, nur eben in einem von Anfang an konsequent auf die Schulbedürfnisse zugeschnittenen Neubau. Wir hatten hier die Möglichkeit, die Klassenzimmer jeweils um einen ‚Marktplatz‘ herum zu gruppieren. Die Kinder sollen sich praktisch die Architektur zu eigen machen, und das geht eben nur, wenn sie Teil der Spiel- und Lernerfahrung ist. Wir haben zum Beispiel im Kindergarten eine Rutsche, die die Kinder anstatt der Treppe nutzen können. Hinzu kommt ein großer Tobeplatz, dahinter ist ein Multifunktionsraum mit einer Bühne, ein Turnraum. Die Funktionalität der architektonischen Elemente kommt überall im Gebäude zum Tragen. Die Konzeption bietet nicht nur einen Raum, sondern fordert auch zum Lernen auf.

 

 

Mittelschule: Forum der Ideen

 

Daniel

Du hast die Marktplätze als Teil des Konzepts erwähnt. Dieses Konzept finden wir in der Primarschule wieder, wo er als zentrale Zone zwischen den Klassenzimmern interpretiert ist, die für die Schüler frei nutzbar ist. Für die Mittelschule haben wir das Thema ‘Forum Romanum’ gewählt, das dann als ein grosser Freiraum umgesetzt wurde, um den sich alle Klassenräume und Funktionen gruppieren. Es ist das Herz des Clusters, der Treffpunkt, der Ort des Austauschs und der Ideen.

 

Sven

Richtig. Wir haben uns am römischen Atrium orientiert mit den typischen Architekturprinzipien. Der Bereich im Innenhof eines römischen Wohnhauses der geschützt ist. Ein Ort, an dem man sich trifft, lustwandelt und philosophiert. Das haben wir übertragen: Hier treffen sich die Schülerinnen und Schüler und können selbständig lernen. Das Mobiliar ergänzt hier die Architektur, das ist einfach aber kreativ. Im Atrium ist immer etwas los: Hier werden die Laptops aufgeschlagen, hier wird gearbeitet und diskutiert. Daneben gibt es auch Bereiche, die etwas ruhiger sind. Unsere Schülerinnen und Schüler fühlen sich hier wohl, es ist ein toller Lernraum.

 

Daniel Heusser

Wenn wir Schulen konzipieren, ist für uns eine gute natürliche Beleuchtung von zentraler Bedeutung. Licht, insbesondere Tageslicht, erweckt die Räume zum Leben und macht sie zur freundlichen Lernumgebung. Dementsprechend war das Beleuchtungskonzept ein wichtiges Thema bei der Konzeption der neuen Schule in Yangpu.

 

Sven Heineken

Das Atrium ist sehr schön hell. Oberhalb des Atriums wurden nun die ursprünglich vorgesehenen Dachfenster eingebaut. Der Raum ist nun noch heller, was seiner Bedeutung als zentralem Raum gut entspricht. Im Kindergarten herrscht ein warmes Raumklima durch die rote Farbgebung der Oberlichter, die das Licht ein wenig absorbieren und die Helligkeit dämpfen.

 

Daniel Heusser

Schon in Pudong haben wir ja Dachfenster eingebaut, um zentrale Innenräume zu erhellen. Etwas vom faszinierendsten an der Piazza dort war das Spiel der Sonnenstrahlen, die den Raum je nach Tageszeit in ein völlig anderes Licht tauchten. Dieses Spiel des Tageslichts ist auch hier wieder zu finden.

Daneben ist natürlich auch eine gute Ausleuchtung mit künstlichem Licht wichtig. Wie hat sich das hier in Yangpu bewährt?

 

Piazza der Deutschen Schule Pudong, Shanghai by VIRTUARCH, 2011-2012

 

Sven Heineken

Wir hatten uns auf einen Beleuchtungsfaktor von 400 Lux festgelegt und das funktioniert gut. In den Office-Bereichen sind wir gefühlt ein wenig zu dunkel. Da hätten wir vielleicht mutiger sein können. Andererseits habe ich nun ein Büro mit Tageslicht.

 

„Unsere Kinder sollen spielen und toben können. Draußen und drinnen.“

 

Daniel

In der Konzeption der Schule haben wir auch den Außenräumen eine große Bedeutung zugemessen.

 

Sven

Wir sind eine deutsche Schule und Deutschland steht auch für Naturerlebnis. Das wollten wir hier in Shanghai erlebbar machen, trotz Hitze im Sommer, feuchter Kälte im Winter und an manchen Tagen keinen guten Luftwerten. Die Frage war: Wie können wir Erfahrungen durch Spielen und Klettern in das Gebäude integrieren? Die Antwort sind Rutschen und Indoor-Spielplätze mit Anbindung nach draußen. Meiner Meinung nach haben wir qualitativ einen der besten Spielplätze der Stadt. Alle Elemente sind aus Deutschland importiert, naturnah, aus Holz. Wenn es das Wetter und die Luftqualität zulassen, gehen wir mit den Kindern raus. Können wir nicht raus, haben wir auch im Gebäude so viele Möglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenzen, Körperwahrnehmung und Balance ausprobieren. Im Kindergarten zum Beispiel gibt es einen Barfußpfad mit Kork, der fühlt sich warm an, Platten, die kühl sind, Pflastersteinen, Filz und vielem mehr. Die unterschiedlichen Reize schulen Wahrnehmung und Sensorik. Im Kindergarten lädt zudem einen Multifunktionsraum zu Aktivität ein: Das ist ein Turnraum, der auch als Spiel- und Theaterraum funktioniert und den wir auch als Kinosaal nutzen. Der Raum lässt sich öffnen und bestuhlen, so können hier Theater- oder Turnaufführungen stattfinden. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit, im Gebäude an einer Kletterwand zu trainieren.

„Unser Grundkonzept ist das Haus des Lernens. Die Architektur spiegelt dabei Entwicklungsstufen wider.“

 

Daniel

In den Workshops hat sich rasch das Konzept des ‚Haus des Lernens‘ als zentrale Idee herausgestellt und wir haben das dann so in die Raumprogramme gegossen.

 

Sven

Eine wichtige Aufgabe der Architektur bestand darin, die Entwicklungsstufen der Kinder architektonisch abzubilden und so das Gebäude auch visuell in ein Haus des Lernens zu verwandeln. Die erste Lernstufe besteht aus den Clustern der Drei- bis Fünfjährigen: Wenn die Kinder hier angekommen sind, dann haben sie die erste Treppenstufe genommen, auch architektonisch. Danach geht es für sie in die Grundschule – diese Stufen haben wir horizontal miteinander verbunden. Das bedeutet: Die Kinder wachsen und steigen im auch im Haus auf. Es gibt eine vertikale und eine horizontale Achse als Verbindung zwischen den Bereichen. In Deutschland sind Kindergarten und Schule in der Regel räumlich getrennt, nicht selten in einem anderen Ortsteil. Bei uns ist alles in einem Haus: Das schafft weiche Ãœbergänge für die Kinder und für die Pädagogen Möglickeiten der Kooperation. Diese Schnittstellen zwischen den Bildungsbereichen unterstützt das Gebäude genauso wie das Wachsen der Kinder in ihrer altersgentsprechenden Umgebung.

 

Daniel

Wir haben versucht, dass das Gebäude im Prinzip ein Abbild der Lebensumgebung der Kinder ist. Die verschiedenen Nutzungen sollten nahe zusammengebracht werden, die Interaktion zwischen den Räumen und Zonen war uns allen sehr wichtig. Gleichzeitig bot die neue Schule durch das vergrößerte Raumprogramm natürlich die Möglichkeit, die einzelnen Räume viel präziser auszugestalten.

 

Sven

Wir haben hier so genannte Labore, das sind im Grunde Fachräume. Es gibt einen Kunstraum, einen Musikraum, eine Werkstatt und eine Mediathek. Die Idee ist, dass die Kinder in definierten Bereichen selbstbestimmt über die Gruppenzeiten hinaus Bildungsangebote nutzen können. In Pudong war jeder Gruppenraum zugleich auch ein Labor. Mit der neuen Architektur haben wir diese Bereiche nun getrennt und können so die Funktion besser nutzen.

Daniel

Und ihr habt jetzt insgesamt viel mehr Platz.

 

Sven

Das ist richtig, wobei wir bewusst die Gruppenräume kleiner ausgelegt haben, damit wir den anderen Räumen mehr Platz geben konnten. Es gibt nun mehr spezialisierte und gemeinsam genutzte Multifunktionsräume; jeder Ort in der Schule soll in der Art der Ausgestaltung ein spezielles Lernangebot bieten.

 

Daniel

Wie sieht es mit den Lehrerzimmern aus?

 

Sven

Die Lehrkräfte hatten sich damals im Prozess gewünscht, dass auch sie diese Verbindung der Cluster haben wollen. Eine vertikale Verbindung musste also geschaffen werden: Die Lehrerzimmer sind deshalb übereinander angelegt und mit einer Wendeltreppe verbunden. Das Prinzip funktioniert auch hier gut.

 

 

„Differenzierungsräume müssen attraktiv sein. Dann werden sie auch angenommen und genutzt.“

Daniel

Lass uns nochmals auf die Differenzierungsräume im Clustersystem zurückkommen. Die gab es ja schon in Pudong und die räumliche Trennung kam über Gänge und Gemeinschaftszonen zustande. Was kannst Du uns über die Umsetzung und die Nutzung hier sagen?

 

Sven

Hier in Yangpu haben wir nun Marktplätze, die um die Klassenzimmer herum arrangiert sind. Dazu kommen eigene Differenzierungsräume. Die sollten eine gewisse Transparenz haben und gerade in der Sekundarstufe dazu auffordern, gezielt reinzugehen und diese zu nutzen. Sie müssen also attraktiv sein. Deshalb haben wir jeden dieser Räume mit je einem großen TFT-Monitor ausgestattet, mit dem sich die Schülerinnen und Schüler mit ihren Laptops über das Wireless-System verbinden können. In diesen Clusterräumen haben wir geschwungene Tische. Das soll einfach einladend sein, so dass eigenständige Arbeiten der Kinder in Gruppen auch durch die Architektur unterstützt wird. Der Aufforderungscharakter zeigt seine Wirkung: Die Schülerinnen und Schüler sind gerne in diesen Räumen und arbeiten, das zeigt sich in der täglichen Nutzung.

 

Daniel

Wie gut funktioniert die neue Cluster-Architektur mit Blick auf den Lernerfolg? Siehst Du diesbezüglich schon Unterschiede im Vergleich zu Pudong?

 

Sven

Lernerfolg ist so schwer messbar. Aber: Ich sehe gerade in der Sekundarstufe, dass in den Differenzierungsräumen rund um die Uhr Kinder sitzen, also außerhalb des Klassenzimmers. Die Freistunden werden ganz anders genutzt. Immer dann, wenn Oberstufenschüler keine Vertretung haben, also frei haben, dann sitzen sie wirklich hier und arbeiten. Und viele Lehrer brechen, wie das auch gewollt war, ihren Unterricht auf: Gruppenarbeiten finden nicht mehr in einem Raum statt, denn 20 Kinder, die gleichzeitig reden, sind entsprechend laut. Wenn wir die Möglichkeit haben, dass eine Gruppe in den Differenzierungsraum geht, die andere Gruppe im Marktplatz sitzt, die nächste im Atrium, andere in der Bibliothek, dann haben wir die funktionale Architektur, die wir uns vorgestellt haben. Sie unterstützt das Lernen. Und die Schülerinnen und Schüler können selbständig überlegen: Will ich in einem privaten Differenzierungsraum arbeiten oder regt mich das eher an, wenn ich in einer öffentlichen Fläche mit gleichaltrigen oder älteren oder jüngeren Mitschülern in Kontakt komme. Oder möchte ich eben in die Bibliothek gehen und ganz in Ruhe arbeiten und recherchieren. Räume zu schaffen, in dem Lernen selbstbestimmt stattfindet, funktioniert im Clustersystem hervorragend.

 

Daniel

Wir haben also über die Definition und die Vernetzung der Räume den Schülern Freiheit gegeben, und die nehmen die Schüler dann auch an.

 

Sven

Ja. Unbedingt. Wenn man heute in ein modernes Unternehmen kommt, ich war neulich bei Porsche, dann wird dort genau dieses Prinzip umgesetzt. Auch in der Wirtschaft hat sich durchgesetzt, dass Kooperation und Zusammenarbeit durch eine kommunikationsfördernde und aktivierende Arbeitsumgebung in besonderem Maße unterstützt werden können. So findet sich auch in dort immer weniger Einzelbüros. Stattdessen gibt es gemeinsam genutzte Meetingräume, öffentliche Flächen, kreative Bereiche usw.; eigentlich genau wie bei uns in der Deutschen Schule Shanghai Yangpu.

 

Daniel

Das ist ein guter Punkt. Wir sehen in unserer Arbeit tatsächlich, wie sich die Lern- und Arbeitsumgebungen wandeln. Als wir vor über 15 Jahren in Shenzhen eine Mittelschule planten, die keine Klassenräume mehr hatte, sondern eine völlig offene ‘Lernlandschaft’, war das eine Revolution, und ausser dem Schulleiter Bob Dunseth und uns glaubten Wenige daran, dass das funktionieren könnte. Es hat sich dann gezeigt, dass die neue Umgebung mit ihren Freiheiten sehr gut angenommen wurde, und wir konnten in dann mehr und mehr Konzepte umsetzen, die das Prinzip ‘Klassenzimmer-Korridor-Spezialraum’ aufbrachen. Eine ähnliche Entwicklung machen unsere Arbeitsumgebungen durch, getrieben auch vom flexibleren Einsatz von IT-gestützten Arbeitsinstrumenten und von einer Emanzipation der Schüler und Mitarbeiter.

 

 

„Unsere Labore haben eine deckenbasierte Wasser- und Stromversorgung. Das macht uns ungemein flexibel“

 

Daniel

Für die Wissenschaftsräume haben wir auf ein Konzept gesetzt, das flexible Räume vorsieht. Wie hat sich diese Flexibilität auf die tägliche Nutzung ausgewirkt?

 

Sven

Sehr gut. Unsere Labore haben Universitätsniveau und sind flexibel nutzbar. Alle Räume haben Wifi und deckenbasierte Energieversorgung und Wasserversorgung. In der Biologie und der Chemie haben wir sogar mobile Waschbecken, die man an Tische stellen kann und sich so seinen Schülerarbeitsplatz bauen. Die Energieversorgung von oben ermöglicht, dass ich Gruppenarbeitstische mit einer U-Form bilden kann. Ich habe die Möglichkeit verschiedene Settings aufzubauen und sie schnell wieder zu verändern. In einem herkömmlichen Naturwissenschaftsraum ist die Energieversorgung im Boden montiert, die Tische vermutlich noch am Boden festgeschraubt. Für moderne Unterrichtsformen ist das nicht hilfreich.

Daniel

Dieses Konzept ist nicht nur flexibel, sondern auch ziemlich effizient in Bezug auf die Größe der Räume. Das klassische Schullabor hat ja häufig noch die ‚festgeschraubte‘, fixe Anordnung der Tische, was Gruppenarbeiten oft im Wege steht. Wo genügend Platz zur Verfügung steht, kann auch eine Trennung der Zonen sinnvoll sein. In der Internationalen Schule Tianjin zum Beispiel haben wir beinahe doppelt so große Labors entworfen, die einerseits fest installierte Labortische haben und andererseits eine flexible Unterrichtszone. Das ist sehr großzügig gedacht. Während dort die Laboreinrichtung eher konventionell ist und dafür mehr Fläche gebaut wurde, ist die Flächennutzung in der Deutschen Schule Yangpu natürlich effizienter, dafür ist die Investition in die Laboreinrichtung höher.

„Wir mussten unseren Unterricht neue denken und praktisch von heute auf morgen digitalisieren“

 

Daniel

In den 7 Jahren, in denen Du jetzt hier warst, was hat sich im Lernprozess oder in der Art wie unterrichtet wird besonders verändert?

 

Sven

Das letzte Jahr war geprägt durch die lange Schulschließung. Wir waren vier Monate im E-Learning-Modus, da haben wir Unterricht komplett neu gedacht. Von heute auf morgen haben wir unseren Unterricht auf digital umgestellt und haben Erfahrungen mit Lernmanagement-Systemen und Lernplattformen für den Unterricht gemacht. Jetzt versuchen wir das in den normalen Schulalltag zu integrieren. So war eine Maßnahme in diesem Schuljahr alle Schüler ab der Klasse fünf mit eigenen Endgeräten auszustatten, die sie auch mit nach Hause nehmen dürfen. Damit setzen wir im Grunde voll auf Digitalisierung. Wir haben aber auch im Blick, dass bestimmte Dinge pädagogisch doch noch mal neu gedacht werden müssen, wenn die Schüler nicht zu Hause im E-Learning sind und die Geräte hier in der Schule nutzen.

 

Daniel

An was denkst Du das konkret, hast Du Beispiele?

 

Sven

Screen Time ist das Stichwort hier. Wir müssen darüber nachdenken, wie lange die Schüler am Ende des Tages tatsächlich vor so einem Rechner sitzen sollen. Wir wollen natürlich nicht, dass das den ganzen Tag lang stattfindet. Die Frage ist also: Wo ist ein Computer ein Werkzeug zum Lernen, wo eine Möglichkeit zur Dokumentation von Lernprozessen, und wo, und da sehe ich größte Stärke des Computers, die Möglichkeit zur Kommunikation. Damit meine ich das Gerät zum vernetzten Arbeiten zu nutzen. Da liegt großes Potenzial, das wir noch nicht ausschöpfen. Wir können zum Beispiel mit dem anderen Standort in Hongqiao, die die gleichen Geräte haben, über gemeinsame Unterrichtsprojekte nachdenken, auch wenn die Schüler nicht am gleichen Standort sind. 

Daniel

Wir sehen bereits, wie das wird auch Einfluss darauf hat, wie Schulgebäude genutzt werden. Dieser rasche Wandel ist faszinierend, und es zeigt auch, wie gut geplante Schulgebäude helfen, solche Veränderungen mitzumachen oder sogar zu prägen.

 

Sven

Wir wollten am 4. Februar 2020 den pädagogischen Tag so gestalten, dass wir zwei Professoren aus Deutschland und drei Assistenten eingeladen, die sich in Deutschland Gedanken zum Thema „der Raum als dritter Pädagoge“ gemacht haben. Da ging es um offene Raumkonzepte, um Lernen in der Architektur. Leider musste diese Veranstaltung dann Corona-bedingt ausfallen. Wir haben aber die Grundidee des „individualisierten Unterricht“ weiterverfolgt. Wir bewegen uns also nicht mehr nur im analogen Raum, sondern eben auch im digitalen Raum. Das ist eine ganz spannende Geschichte: Unser Grundproblem ist nicht, dass wir ein schönes Gebäude mit ein paar Computern haben wollen. Unsere Grundfrage war eine andere: Wie können wir Lernprozesse individuell gestalten, um personalisiertes Lernen zu ermöglichen? Wie können wir also Schüler individuell nach ihren Stärken und natürlich auch nach ihren Schwächen fördern und fordern. Dabei ist dann auch die Architektur Mittel zum Zweck. Wir haben uns dieser neuen Situation angepasst und haben es in den digitalen Raum verlagert. Wir haben uns den digitalen Raum erschlossen, der analoge Raum ist aber auch noch da. Die Schüler sind mit ihren Geräten unabhängiger vom Klassenraum. Dadurch gewinnt die Architektur auch außerhalb der Klassenräume enorme Bedeutung. Wie schaffen wir es also, Räume aufzubrechen und den Schülern eigene Lernwege zu ermöglichen?

Daniel

Im Prinzip ist das die Weiterentwicklung dessen, was eigentlich schon im Raum stattgefunden hat. Covid-19 wirkt hier wie ein ‘Brandbeschleuniger’ für eine Entwicklung, deren Glut schon länger glomm. Plötzlich wird das Konzept der ‘Break-out Zonen’ und Rückzugsorte auf die Spitze getrieben, mit den Schülern, die individuell zu Hause, über digitale Kanäle mit ihren Mitschülern und den Unterrichtenden verbunden lernen. Das hat sich in diesen Konzepten mit Break-Out Spaces schon lange gezeigt. Auch Bibliotheken werden heute anders genutzt. Ich denke, das ist eine spannende Geschichte für die nächsten Jahre.

 

Sven

Und es wird verstärkt durch die Nutzung der digitalen Endgeräte. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.

 

 

„In der neuen Schule haben wir viel von dem verwirklicht, was wir in der alten Schule gerne gehabt hätten“

Daniel

Wir haben ja damals viel über das Konzept für die neue Schule gesprochen und was Du Dir als Pädagoge vorstellst. Du hast die Cluster-Lösungen umgesetzt, hast flächenmäßig wesentlich mehr Raum zur Verfügung, hast zusammen mit der Französischen Schule eine grosszügige Kantine, eine grosse Turnhalle. Viel hat sich verändert. Wie hat sich das ausgewirkt?

 

Sven

Es ist natürlich alles besser geworden. Die Kantine ist ein Quantensprung zu vorher. Wir hatten in Pudong eine halbe Warmmachküche und konnten nur wenig selbst kochen. Das Essen ist jetzt viel frischer. Wir haben sechs oder sieben Menülinien, das Angebot reicht von italienisch und asiatisch, über vegetarisch bis hin zum Chefs Table mit besonderen Kombinationen. Das ist super. Auch die Kantine selbst ist viel ansprechender.

Die Turnhalle ist im Vergleich zu früher eine andere Welt: In der alten Schule hatten wir einen kleinen Turnraum mit einer niedrigen Decke. Jetzt verfügen wir über zwei volle Hallenviertel mit einer so hohen Decke, dass man Volleyball spielen kannt.

Was sich leider aus finanziellen Gründen noch nicht erfüllt hat, ist das Schwimmbad. Das wurde in eine zweite Phase verschoben und ist noch nicht fertig ausgebaut, ebenso das Theater und der Multifunktionsbereich, in dem Musik- und die Kunsträume integriert sein werden.

 

Daniel

Das sind Dinge, die im Zuge Eures Wachstums noch kommen werden. In der Vorbereitung gab es ja sehr viele Fragen bezüglich der Kooperation mit der französischen Schule. Was macht man zusammen, was macht man allein? Wie hat sich das entwickelt?

Sven

Dadurch, dass die Schule weiterhin für einen Großteil der Schülerinnen und Schüler nicht im direkten Einzugsbereich der Wohngebiete liegt, ist es so, dass sie um 17 Uhr mit dem Bus nach Hause fahren. Und dann ist unsere Schule eigentlich leer. Andere Schulen, wie die deutsche Schule in Hongqiao sind umgeben von Wohnsiedlungen. Dort können die Schüler selbstständig nach Hause gehen und Angebote ausserhalb der Schulzeiten können genutzt werden. Wir hoffen, dass wir uns dahin entwickeln können. Immer mehr Familien wählen Yangpu, also unseren Bezirk, als Wohnort, weil sie die grüne Umgebung schätzen. 

Daniel

Du hast hier als fast einzige Schule einen unterirdischen Busparkplatz mit einem Drop-Off Space. Wie hat sich das bewährt?

 

Sven

Sehr gut. Es ist leider fast schon wieder zu klein, da mittlerweile um die 53 Busse jeden Tag dort parken. Unser Einzugsgebiet ist weit über Shanghai verteilt und es gibt eine Reihe von kleinen Bussen, die bei dieser ursprünglichen Planung nicht bedacht wurden. Diese parken in zweiter Reihe. Aber generell ist dieses Prinzip sehr gut, gerade für die großen Busse: Die Schüler steigen bei ihrer Ankunft aus sind sofort auf einem witterungsgeschützten Gehsteig inmitten der Schule; sie müssen keine Straße überqueren, es gibt keinen Autoverkehr. Das ist eine absolut sichere Sache. 

 

Daniel
Was hat sich nicht so erfüllt, wie es angedacht war? Wo sind Potenziale ungenutzt geblieben?

 

Sven

Ich muss ganz ehrlich sagen: Eigentlich sind alle Dinge eingetreten, die wir uns vorgenommen haben – mit Ausnahme der noch nicht fertiggestellten Zonen. Wenn ich mir den Vollausbau anschaue, dann bin ich zuversichtlich, dass wir unsere ambitionierten Ziele vollumfänglich erreichen werden.

Daniel

Abschließend: Was ist Dein Lieblingsort in der Schule?

 

Sven

Ich finde das Atrium großartig als zentraler Raum in der Sekundarstufe. Architektonisch gefällt mir das Treppenhaus zur Verwaltung sehr gut. Es ist ein wenig wie ein Museum of Modern Art, die Architektur hat Skulpturencharakter. Für mich hat das etwas ästhetisch Schönes, etwas Einladendes mit viel Klarheit. In diesem Treppenhaus kann man durch das gesamte Gebäude  hindurch schauen: Man sieht im ganzen Gebäude Menschen die Treppen rauf und runter gehen oder die Piazza überqueren. Hier wird sichtbar, dass das Gebäude lebt – das macht es zu meinem Lieblingsort.

 

Daniel

Sven, vielen Dank für dieses Gespräch.

Sven Heineken studierte die Fächer Musik und Physik für das Lehramt an Gymnasien an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Nach dem Referendariat in Frankfurt am Main ging er zurück nach Niedersachsen, wo er zunächst am Otto-Hahn-Gymnasium Springe und dann am Viktoria-Luise-Gymnasium in Hameln als Gymnasiallehrer und als Mitglied der erweiterten Schulleitung tätig war. Es folgte die Übernahme der stellvertretenden Schulleitung am Humboldt-Gymnasium in Bad Pyrmont, bevor er 2014 als Schulleiter nach Shanghai kam, um die Deutsche Schule Shanghai Pudong zu leiten. Zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem die Planung und Konzeption des Neubaus der Schule im Stadtteil Yangpu, die 2020 eröffnet wurde. Am 1.8.2021 tritt er die Leitung des Gymnasiums Buxtehude Süd in Buxtehude an.  

Daniel Heusser studierte Architektur an der ETH Zürich und an der Southeast University in Nanjing; 1994 kam er nach China, um ein JV für ein Schweizer Architekturbüro aufzubauen. Seit 2003 leitet er die Firma VIRTUARCH mit Büros in Shanghai, Bangkok und Zürich. Mit seinem Team von rund 80 Mitarbeitern hat er über 120 Schulprojekte in China und Südostasien umgesetzt, unter anderem den Eurocampus in Shanghai, die Deutsche Schule Pudong, Schulcampuses für Dulwich in Shanghai, Suzhou, Beijing und Zhuhai, etc. 

Die Deutsche Schule in Shanghai wurde 1995 gegründet und verfügt heute über zwei Standorte in Shanghai: Den 2005 eröffneten Eurocampus in Hongqiao sowie den 2020 bezogenen Eurocampus in Yangpu. Beide Standorte werden zusammen mit der Französischen Schule betrieben. Sven Heineken ist seit 2014 Schulleiter des Standortes Pudong (heute Yangpu) und hat in dieser Funktion die Erweiterung der Schule in Pudong sowie  den Neubau der Schule in Yangpu verantwortet. Daniel Heusser war mit seinem Team für die Planung und das Projektmanagement der verschiedenen Ausbauschritte in Pudong verantwortlich, war Bauherrenvertreter des Eurocampus Hongqiao von 2003 bis 2005 und agierte von 2015 bis 2019 als Bauherrenvertreter der Schulen für den Neubau in Yangpu.

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